Mittwoch, 23. November 2005

Winterliebe

Ich habe die Schönheit des Winters vergessen. Schon seit langem. Ich sehe nur dreckigen Schneematsch auf der Straße, aufgewirbelt von Lastwagen, Dreck auf den Scheiben, Schneegestöber, keine Sicht. Eisglatte Brücken. Die Straße ist vor lauter Schneeverwehungen nicht mehr zu finden. Stau. Wilde Autofahrer, die trotz der Wetterlage fahren wie auf dem Nürnbergring und alle Normalsterblichen gefährden. Oder die Schleicher, die mit Sommerreifen durch die Gegend kriechen und an den Nerven der anderen zerren. Ich fühle die kalte Luft in meiner Lunge, fühle, wie die kleinen Lungenbläschen sich weigern diese Kälte zu akzeptieren. Ich schlurfe über den verschneiten Gehsteig, ständig in Angst mich auf den Allerwertesten zu setzen, trotzdem in Eile, denn die U-Bahn wartet nicht. Grantige Gesichter am Bahnsteig der S-Bahn. Es ist schon der zweite Zug ausgefallen. Schnee kommt in Deutschland immer komplett überraschend. Alle frieren. Die Laune gleicht sich der Außentemperatur an.
Kahle Bäume, wie tote Gerippe stehen sie in der Landschaft. Das Leben schläft und wie immer hoffe ich, dass es uns nicht einmal enttäuscht und einfach weiter schläft.
In der Früh werde ich nicht wach, weil es stockfinster ist. Am Abend möchte ich um 17h ins Bett gehen, weil es dunkel ist. Ich friere, und meine Heizkosten steigen. Ich hege Fluchtgedanken. Möchte auswandern auf die kanarischen Inseln oder nach Hawaii, wo man die hässlichen Wintermonate vortrefflich versüßen kann. Ich hasse den Winter. Ich hasse ihn aus tiefstem Herzen.

Als wolle mir der Winter seine positiven Seiten präsentieren, sich anpreisen und um mein Verständnis betteln, breitet sich die Natur heute in all ihrer Schöneheit vor mir aus. Die Sonne scheint mir ins Gesicht, als ich das Haus verlasse, schickt mir einen freundlichen Morgengruß und entlockt mir ein Lächeln. Meine Lunge protestiert gegen die Kälte, trotzdem nehme ich einen tiefen Atemzug der frischen Luft. Und werde wach.
Kaum verlasse ich die Stadt, wird die Schönheit umwerfend. Majestätisch präsentieren die Bäume ihren weißen Überzug, so wie eine Frau ihr Abendkleid zur Schau stellt. Die Nacktheit ist verborgen und trotzdem unübersehbar. Die Sonne blitzt zwischen den Bäumen hindurch als ich in den Wald fahre und taucht die Welt in ein goldgelbes Licht. In der Ferne leuchten die Berge. Schneefelder werden sichtbar, dazwischen kantige Felsen. Ich lasse den Wald hinter mir. Weiß wie Leinentücher breiten sich die Felder aus, unberührt und neu. Ich spüre den Drang, durch die Felder zu rennen und ihnen meine Spuren aufzudrücken. Die Wälder in der Ferne sehen aus, als wäre sie mit Zucker bestreut. Das Weiß steht den dunklen Tannen ausgezeichnet.
Ich kriege das Lächeln nicht von meinem Gesicht und ich weiß, dass es guter Tag wird. Vielleicht so gar ein guter Winter.
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